Home Mein Tag der Sühne

Manchmal, wenn die eigenen Gedanken und die eigene Vorstellung ins Ferne driften, in die Menge von unbekannten Menschen, begegnet man plötzlich etwas oder jemanden, was oder wen man bereits einmal gesehen hat. Wie eine ferne Erinnerung, die plötzlich aus dem chaotischen Unterbewusstsein auftaucht und zur strukturierten, klaren Bewusstheit in uns gelangt. Heute habe ich dieses Gefühl erlebt, als ich im Zug saß und plötzlich eine bekannte Person sah, die ich vorher schon mal gesehen hatte. Es war eine Frau, ziemlich hübsch, gekleidet in einer schwarzen Sporthose, einem grünen Shirt und einer Tasche um ihre Schulter gehängt. Es war die Größe, das lange Blonde Haar und das schüchterne, freundliche Gesicht, die mich an jemanden erinnerten, mit dem ich vor ein paar Jahren gemeinsam studierte. Damals, als wir uns mit klassischer Literatur von Balzac, Joyce und Hesse zugedeckt hatten. Ich erinnerte mich an sie als eine sehr angenehme Person, etwas uniform, was die Persönlichkeit angeht und eine fromme Katholikin. Diese ferne Erinnerung wurde plötzlich zu einer wilden, reichhaltigen Vorstellung der Beschaffenheit einer Fantasywelt Tolkiens.

Als ich da saß und davor war, auszusteigen, bemerkte ich einen Mann, der hinter ihr aufstand, weiterführend, was wie ein Teil einer größeren Konversation über irgendetwas aussah. Als sie sich zum Ausgang wandten, versetzte mir ein Gedanke einen Schlag: Wie schnell das Leben an uns vorbeizieht. Es ist, als wären wir Passagiere im Zug des Lebens und wir alle haben ein Erste Klasse Ticket zur Endhaltestelle. Instinktiv ist es die Pflicht jedes Mannes und jeder Frau die wunderschönen - und erschreckenden - Landschaft ausserhalb der Fenster zu genießen, während wir uns gemeinsam zum Ende bewegen. Es kam mir nicht als besonders fremd oder erschreckend vor, aber als sehr mächtig. Denkt darüber nach: Jeden Tag erwacht man in einer Welt der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten. Jede Gelegenheit ist unsere Gelegenheit. Und dennoch beschränken wir uns bloß darauf, für 8 Stunden an der Tastatur zu tippen, Menschen in flimmernden Kisten zu beobachten und den Rest unserer Wachzeit damit zu verbringen, uns über Geld und die Zukunft Sorgen zu machen. Währenddessen bewegt sich der Zug immer weiter und solange wir es nicht schaffen, flüchtig zu erkennen, wie es ist, draußen zu sein und zu leben, möglicherweise am Leben teilzunehmen, etwas hinter uns zu lassen, war unsere Existenz im Grunde die Reise von Geburt bis Tod. Von einem Halt zum Nächsten, endlos.

Was mich daran so stark bewegt hat, diese Frau wiederzusehen, war die Erkenntnis, dass auch wenn das Leben voller Möglichkeiten ist, sie an uns vorbeiziehen, solange wir sie nicht ergreifen und unserem Willen entsprechend umformen. Ich erinnere mich an die Frau als recht uninteressanten Charakter und, wenn auch gutaussehend und aus einer stabilen, guten Familie kommend, war sie nicht das ideale Individuum auf das ich hoffte, das mich dazu inspiriert, eine bessere Person zu werden, bessere Dinge zu erschaffen und vice versa. Also ließ ich sie aus; ließ eine Chance aus einer Millionen aus, nicht daran denkend, dass so eine Gelegenheit nie wieder kehren würde. Das Wiederauftauchen dieser Frau war, bildlich gesprochen, die Möglichkeit, eine vergangene Gelegenheit wiederzuerleben, uns dazu zu reizen, dass das Leben nur das ist, was wir ultimativ daraus machen. Auch wenn wir mit einem Satz an Fähigkeiten, stark verdrahtete Erfahrungen ("genetische Erinnerung") und in einem gewissen kulturellen Kontext geboren werden, liegt es an uns, diese Dinge zu kultivieren und uns zu verbessern, einen Philosoph umschreibend, der diesen Umstand korrekt verstanden hat und es auf die Philosophie seines ganzen Lebens übertragen hat, "die werden, die wir sind". Das impliziert, dass auch wenn wir nicht die Plattform unseres Verhaltens und Persönlichkeit ändern können, können wir sie herangedeihen lassen, wie ein Baum, und wenn wir es mit Geist und Grazie tun, wird es eventuell Früchte tragen und sowohl uns als auch andere ernähren. Morsche Bäume - solche, die sich nicht entwickeln und wachsen, sterben von innen wegen dem Fehlen von Ernährung.

Mein plötzlicher Flashback brachte mich gnadenlos zurück in die Realität. Es war Zeit für mich, auszusteigen, also schnappte ich mir meine Zeitschrift und ging nach draußen, näherte mich dem Aufzug zu der Brücke, die hinrunter zur Hauptstraße führte. Und während ich ging, konnte ich aus dem linken Augenwinkel erkennen, dass sie neben mir ging. Ab und zu verdeckte ein Pfeiler die Sicht und dann würde ich sie jedesmal wiedersehen. Es war wie ein Gang durch das eigene Ich, sich selbst beobachtend - oder die Person, die man hätte sein können, miteinander kommunizierend, still unter dem Lärm der Menschen und Autos: "Ich sehe dich, aber ich muss mich nicht umdrehen und dir gegenübertreten, denn ich war derjenige, der dich vor langer Zeit zurückließ." Als wir hoch zum Aufzug gingen und endlich das Treppenende erreicht hatten, drehte sie sich nach links und hielt an, um sich mit dem Mann, den ich im Zug gesehen hatte und der wohl ein Freund von ihr war, zu unterhalten. Ohne mich herumzudrehen und zu wissen, ob sie mich überhaupt bemerkt hat, ging ich weiter die Straße hinrunter. Ich konnte die Essenz davon fühlen, was gerade passiert war: Wenn uns jede Gelegenheit im Leben heilig ist, könnten wir niemals weitergehen. Der Zug würde halten und niemals unsere Bestimmung erreichen. Aus diesem Grund begehen Menschen, die unzufrieden mit ihrem Leben sind, selten Selbstmord: Wie jemand, der in einem Prozessor den Megahertz runtergetaktet hat, verringert sich das Tempo des Lebens und plötzlich fühlt man sich, als hätte man alles und jeden umklammert, den Sinn für innere Harmonie und Vollendung wiederfindend. Wir lehnen es ab zu sterben, wenn wir das Leben nicht mögen, denn wir wollen einen letzten flüchtigen Funken der Welt der Möglichkeiten auffangen bevor wir uns zum Abtreten entscheiden. Es ist das innere Kind, dass danach schreit, herauszukommen und die Welt wieder zu einem wunderschönen Ort zu machen.

Diese Gedanken durchgehend, fühlte ich mich nicht entmutigt oder besorgt. Andererseits, als ich die Zeitschrift in meiner Hand faltete und die Menschen eilig am Zebrastreifen vorbeiziehen sah, ging ich beinahe zwischen die Autos und fühlte, dass mein Leben sich in ein Nachmittagskabarett verwandelte. Ich war der Dirigent, im Hintergrund versteckt, meine magische Wand schwenkend und alles in ein Tanzspiel verwandelt, jeder folgte meinen Emotionen und meinem Willen. Es war so, als hätte sich das Leben zu einem poetischen Schlaftfeld verwandelt und die Menschen um mich herum waren Krieger, Pferde und Kanonen. Es war Krieg, in dem Sinne, dass das unausweichbare Schicksal des Todes in der Luft lag, aber darum herum war eine Aura der Lust, den Tag anzugehen und das Beste daraus zu machen, was angeboten wird. Man könnte im Café sitzen und frühstücken, den Bus nehmen, um sich mit seinen Freunden zu treffen, oder einfach im stillen Park nahe der Kathedrale entspannen, um den Glockenspiel zuzuhören die einen Tag voller endloser Möglichkeiten einläuteten. Und da war sie, das friedliche Wissen darüber, dass auch wenn Millionen Chancen uns jeden Tag entweichen, wird eine handvoll gewählt, die unseren Tag interessant und herausfordernd machen. Menschen werden auftauchen und verschwinden, Schlachten werden gewonnen und verloren werden, Liebesgefühle werden kommen und gehen, aber das, was bleibt - der mächtige und determinierte Wille der Individualität, der Wille, die Welt zu deiner Welt zu machen - wird weiterhin der Glorie der Existenz gegenübertreten und sich selbst in die Gnade von unzähligen Widerständen zwingen. Zu lieben und heranzuwachsen zu einem großen, majestätischen Baum unter allen anderen Bäumen im Wald, still seinen Tag der Sühne erwartend.

28. Juni 2008

Unser Dank geht an "Wigr" für diese Übersetzung


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